29. September 2019

Lichtspielräume des Videospielens

Lichtspielräume des Videospielens

Die Spielsituation des Videospielens ist mittlerweile so alltäglich, dass ihre genauere Betrachtung oftmals banal oder überflüssig erscheint. Genau jene Banalität aber ist es, von der wir uns aufgefordert fühlen sollten, genauer hinzusehen. Und so verbirgt sich diese Mensch-Spiel-Anordnung zumeist in Formulierungen wie „beim Computerspielen“ oder in der eingangs genannten „Videospielsituation“. Auch die Subsumierung unter einer Situation oder Vermittlungsanordnung verkürzt notgedrungen die aktuelle Vielfalt von ganz unterschiedlichen Mensch-Spiel-Anordnungen, sei es das Spielen auf dem Sofa, im Bus oder am Schreibtisch. Mindestens eine Sache haben diese Anordnungen jedoch alle gemeinsam, und das sind ihre Lichträume.

Battlezone, Atari 1980. Bildquelle.

Den folgenden Ausführungen gehen verschiedene Grundannahmen voraus. Erstens ist dies offensichtlicherweise das Licht als Bedingung der Möglichkeit des Videospiels überhaupt. Zweitens ist es die des Lichts als Material des Erscheinenden im Videospiel, was darauf rekurriert, dass uns das Licht des Videospielbildes immer als etwas anderes erscheint – es verstellt oder verschleiert sich sozusagen. Das genaue Hinschauen ist in der Folge nun wichtig, wenn die unterschiedlichen Lichträume der Videospielsituation identifiziert werden sollen. Nicht nur sitze ich am Schreibtisch vor dem Monitor in einem Raum, der auf die eine oder andere Art beleuchtet sein wird – sei es von durch die Fenster fallendes Tageslicht, künstlichen Laternenschein oder durch artifizielle Lichtquellen innerhalb des Raums. Sondern ich blicke ebenfalls auf eine durch das Monitorbild dargestellte Räumlichkeit, die erstens nur durch das Monitorlicht selbst entsteht und zweitens durch ihre Offenheit zu meinem Raum in diesen hinüberstrahlt. Ein Effekt, der besonders eindrücklich bei nächtlichen Spaziergängen in der Stadt beobachtbar ist. Hinzu kommt weiter, dass der Lichtraum des Schreibtischs in den des Videospiels eingeht, was jedoch im Idealfall nicht bewusst erfahren und erst in der Störung durch Spiegelungen auf der sonst stets transluzenten Bildschirmoberfläche bemerkbar wird. Demnach können wir sagen, dass in dieser spezifischen Anordnung des Videospielens zwei unterschiedliche und diffuse Räumlichkeiten miteinander in Kontakt treten. Das Licht überstrahlt die Grenze des Monitors, ausgehend von den beiden hier genannten Seiten, die sich sonst in der medialen Grenzlogik stets diametral gegenüberstehen und offenbart die Darstellungsfläche als semipermeable Oberfläche, oder auch Schwelle zwischen dem Realen und dem Virtuellen. Die Überlagerung der Räumlichkeiten, die sich im Vollzug des Videospiels eröffnet, lässt die Grenze diffus werden, die immersionstheoretisch sonst immer ein Übertreten, Hereingehen oder Hineinversetzen markierte. Demzufolge wird bei der Betrachtung des Lichts des Videospiels deutlich, dass derlei Grenzziehungen in dieser Vermittlungsanordnung nicht ohne Weiteres aufrecht erhalten werden können. Es ist also vonnöten, diese Anordnung ein wenig anders zu denken. Weniger als voneinander abgetrennte Sphären, die beliebig betreten und wieder verlassen werden können, sondern mehr als ein Prozess der Zusammenarbeit, oder besser des Zusammenspiels von Videospiel und Spielenden.

Mit Lichtspielraum soll jene Räumlichkeit bezeichnet werden, die aus dem Zusammenwirken von Spiel und Spielenden, also aus dem Verhältnis von Hard- Soft- und Wetware heraus entsteht. Mit Gilbert Simondon gesprochen aktualisiert sich der Lichtspielraum aus der im Zusammenwirken verorteten Ansammlung von Potenzialitäten. Es ist also nicht etwas, das einfach eingeschaltet und im Anschluss beobachtet werden kann. Aus den genannten Relationen emergierend markiert der Lichtspielraum die besondere Raumzeitlichkeit des Videospiels, und so wird ebenfalls deutlich, inwieweit dessen Prozesshaftigkeit insbesondere durch die Aufnahme und den Abbruch der Videospieltätigkeit gekennzeichnet ist.

The Slow Mo Guys, How a TV Works in Slow Motion.

Treten wir einen Schritt zurück und lenken unsere Aufmerksamkeit auf das Videospielbild selbst, so wird deutlich, dass dieses in seiner grundlegenden Existenzweise als Zusammengesetztes von Licht unterschiedlicher Wellenlängen selbst bereits als Prozess auftritt. Während dieser Umstand anhand längst nicht mehr aktueller CRT-Monitore sehr gut veranschaulicht werden kann, ist der Prozess der Generierung von Einzelbildern bei aktuellen Bildschirmtechnologien weniger gut sichtbar zu machen. Es genügt aber zu sagen, dass dasselbe im obigen Video sichtbare Prinzip des zeilenweisen Bildaufbaus bei aktueller Technologie im Hintergrund innerhalb eines Zwischenspeichers stattfindet, aus dem heraus die berechneten Ganzbilder hochfrequent dargestellt werden. Dementsprechend findet offensichtlich bereits grundlegend eine fortwährende Aktualisierung des Videobildes statt, selbst bei der Darstellung augenscheinlich unbewegter Szenen. Die besondere Prozesshaftigkeit des Videospielbilds macht sich daneben auch in der spielerischen Möglichkeit bemerkbar, den Bildausschnitt frei wählen zu können. Denn alles, was sich gerade durch meine Auswahl des Bildausschnittes off-screen befindet, wird bildlich nicht dargestellt und auch nicht berechnet. Und doch ist dem Off, das überhaupt erst durch den Film denkbar gemacht wurde, eine bestimmte Potenzialität zuzuordnen, aus der heraus das Videospielbild anteilig auch immer wieder aktualisiert wird.

Journey, Thatgamecompany, Sony Computer Entertainment 2012. Videomaterial aus der PC-Version von 2019.

Denn viel mehr noch als im Film, bleibt das Off im Videospiel bei der Bewegung durch architektonische Konstruktionen präsent und verweist damit auf die Abwesenheit von Teilen dieser, oder besser auf die Leerstelle als grundlegender Bestandteil der Realisation des videospielspezifischen Erfahrungsraums. Überhaupt funktioniert die Orientierung im virtuellen Raum, insbesondere im dreidimensional dargestellten Raum des Videospiels, nur durch meine Akzeptanz, dass das, was gerade nicht dargestellt, noch immer in irgendeiner Form präsent ist und damit das Aktuelle komplementiert. Insofern ist sowohl die Anwesenheit als auch die Abwesenheit von Licht konstituierend für den Lichtspielraum und demzufolge stellt die Potenzialität dieses Verhältnisses sich als ein weiterer, offener Möglichkeitsraum und basaler Bestandteil dieses Erfahrungsraums dar. Wie später anhand zweier Beispiele noch deutlich werden wird, muss dabei die An- oder Abwesenheit von Licht nicht unbedingt im Off lokalisiert sein, sondern sie kann als besonderes Gestaltungsmittel selbst zum Licht-Spielraum werden.

Control, Remedy Entertainment, 505 Games, 2019. Bildquelle.

Materialitäten des Lichtspielraums

Schon immer gab es in der Videospielgeschichte die nach wie vor andauernde Bestrebung, die physisch reale Welt visuell möglichst genau abzubilden. So gibt es beispielsweise spezielle Techniken, um zweidimensionale Texturtapeten in detailreiche Reliefs zu verwandeln und so Backsteinmauern, geflieste Fußböden oder holzvertäfelte Konferenzzimmer so authentisch wie nur irgend möglich darzustellen. Die Ergebnisse aktueller grafischer Gestaltungsmethoden und -möglichkeiten haben zur Folge, dass, sobald wir im Videospiel mit diesen Oberflächen in Kontakt treten und bereits Erfahrungen mit ihren realweltlichen Pendants gemacht haben, wir in ganz ähnlicher Weise affiziert werden. Mit jeder neuen Grafikkartengeneration versprechen die Hersteller immer wieder realistischere Darstellungen von Oberflächen, Körpern und Materialitäten. Was im marketinggetriebenen Kauderwelsch und hinter den jährlichen Versprechungen, nun endlich in der Realität angekommen zu sein, untergeht, ist die Frage, ob es denn wirklich ein grundlegendes Bestreben nach realistischen, sprich realweltlichen und physisch korrekten Darstellungen von zum Beispiel Lichtreflexionen auf Wasser oder Schattenwürfen von Kieseln und dergleichen gibt. Vordergründig mag dies der Fall sein, es lohnt sich meines Erachtens jedoch darüber nachzudenken, welche Reaktionen es hervorrufen würde, wären wir in einem beliebigen Teil der Call of Duty-Serie mit der all zu realistischen Abbildung eines Sommertages um die Mittagszeit konfrontiert. Angesichts der durchweg flachen Erscheinung dieser Situation, bar jeden Kontrastes und Dramatik, wäre die Enttäuschung wohl groß.

Die Ästhethik vieler Spiele legt nahe, dass wir im Vollzug des Spiels zumeist weniger die möglichst realitätsnahe Darstellung erleben wollen, sondern vielmehr etwas, das uns affiziert und das wir so vorher noch nicht gesehen haben. Hierbei muss die Darstellung in ihrem größeren Rahmen gleichzeitig konsistent sein und Lücken aufweisen, anhand derer sie unterschieden werden kann. Realismus im Sinne objektiver Realität ist demnach mehr Verkaufsargument und weniger ein konkret ästhetischer Anspruch an den Lichtspielraum des Videospielens. Das Videospiel hat bekanntlich mit einer entscheidenden Tatsache zu kämpfen: der fehlenden Haptik. Wir halten während des Spiels zwar Hardwareinterfaces in unseren Händen, die in unsere Körperschemata eingebunden werden, unsere Eingabebewegungen in Figurenbewegungen übersetzen und infolgedessen mit dem Spielraum vermitteln. Die daraus entstehende kinästhetische Verbindung baut jedoch auf einer Vielzahl an audiovisuell konstruierten Hilfsmitteln auf, um unter anderem eben jene fehlende Haptik des realweltlichen Materials zu simulieren. Nehmen wir diese Darstellung von Kopfsteinpflaster aus Anthem Anthem, BioWare, Electronic Arts 2019. als Beispiel.

Bodenbelag in Anthem.

Wir wissen beim Anblick genau, dass es sich um nasses Kopfsteinpflaster handelt. Und wir wissen auch, wie es sich anfühlt, auf diesem Untergrund zu gehen, darüber mit dem Rad zu fahren oder es mit unseren Händen zu berühren. Simuliert wird hier jedoch nicht der beispielsweise realistische Eindruck des Laufens über Kopfsteinpflaster, sondern vielmehr die Annäherung dessen, gewissermaßen ein so wäre es in dieser Situation über diese Art Kopfsteinpflaster zu gehen. Das Ziel dieser vordergründig möglichst realistischen Darstellung des Kopfsteinpflasters ist paradoxerweise nicht die größtmögliche Annäherung an die realen Vorbilder. Viel wichtiger ist es, die Lücke der fehlenden Haptik der Videospielerfahrung zu schließen. Dies geschieht einerseits durch das Aufrufen vergangener Erfahrungen sowie durch den Verweis auf vermeintlich reale Vorbilder. Dabei muss die Darstellung aber mehr sein, als diese Vorbilder und ist damit immer eine idealistische Darstellung.

Als kurze Zwischenbemerkung sei angemerkt, dass neben der visuellen Ebene das Auditive nicht vernachlässigt werden darf, dass im Verbund mit dem Visuellen erst die besondere Ästhetik des Lichtspielraums ausmacht. Wie Michel Chion schon für den Film angemerkt hat, kommen auch im Videospiel Geräusche zur Vertonung von Situationen zum Einsatz, die mit den realen Klangkulissen dieser Situationen nicht viel gemein haben. Zusätzlich zur idealen Darstellung vom Kopfsteinpflaster wird also auch ein Ton gesucht, der nach dem Gang über dieses klingt, aber nicht notwendigerweise auf dessen Basis hergestellt wurde.

The film spectator recognizes sounds to be truthful, effective, and „fitting not so much if -they reproduce what would be heard in the same situation in reality, but if they render (convey, express) the feelings associated with the situation. Chion (1994), S. 109.

Es gibt aber auch Videospiele, die die Darstellungen ihrer Materialitäten teilweise derart reduzieren, dass das Wirken des Lichts selbst sichtbar gemacht wird. Anhand der zwei folgenden Ausschnitte aus The Unfinished Swan Giant Sparrow, Sony Computer Entertainment 2012. und Scanner Sombre Introversion Software 2017. soll illustriert werden, dass die extreme Reduktion genau diametral zum von Großproduktionen stets präsentierten Realitätsanspruch verläuft und dadurch diverse Funktionsweisen offenlegt werden.

Erkennbar spielt das Licht in beiden Beispielen jeweils als An- beziehungsweise Abwesendes eine prominente Rolle. Als Spielende arbeiten wir direkt mit dem Licht und schaffen durch das Kontrastieren die uns umgebenden Räumlichkeiten selbst. Die Reduktion und das Spiel mit den Leerstellen legt den ontologischen Anteil des Lichts am Lichtspielraum offen, der nicht nur Licht- sondern auch Spielraum ist.

James Turrell, „Virtuality squared“, 2014. Bildquelle. Vgl. Architecture Now.

Betrachten wir zum Vergleich eine der Ganzfeld-Installationen von James Turrell, so können wir sagen, dass in beiden Fällen das Licht in den Vordergrund gerückt, sozusagen als Aktant Siehe zum Verhältnis von Akteur und Aktant Latour, Bruno (1996). gekennzeichnet wird. Das Licht tritt hier bei Turrell vollständig selbstreferenziell als ein Wahrnehmungsraum auf, in dem Maurice Merleau-Ponty nach zufolge das Licht als Gesehenes und wir als Sehende zusammenfallen. Vgl. Merleau-Ponty (2003), S. 286. Beide Räumlichkeiten, die des Lichts bei Turrell und die des Lichtspiels entstehen aus dem Prozess des Zusammenwirkens heraus. Bei Turrell wird das Licht selbst Raum und als Gegenstand der Erfahrung stofflich. Auf Basis des euklidischen Raums entworfen, entschwindet es diesem jedoch und infolgedessen sind architektonischen Grenzen nicht mehr klar wahrnehmbar und erscheinen diffus.

In The Unfinished Swan, teilweise auch bei Scanner Sombre, ist etwas Ähnliches ganz am Anfang zu beobachten, wenn wir mit dem unendlich tiefen oder auch flachen Weiß, beziehungsweise Schwarz konfrontiert sind. Hier ist zunächst das Licht des Videospiels in Reinform zu beobachten, im Übrigen auch die damit einhergehende, eingangs erwähnte Potenzialität – man denke nur an das Construct in The Matrix The Wachowskis (Credited as The Wachowski Brothers), USA 1999.. Wir wären jedenfalls hoffnungslos verloren, könnten wir nicht irgendwie das Programm, das Spiel laden, indem wir dem grellen Zuviel des Lichts Kontrast abringen und somit den Spielraum zumindest für uns effektiv entstehen lassen. Im Gegensatz zum Licht bei Turrell ist das Licht im Videospiel nicht vollständig selbstreferenziell, sondern dient der Darstellung von etwas Anderem. Durch digitale Verfahren wird es folglich modelliert, transformiert und tritt in Form von Objekten, Oberflächen und deren Beleuchtung auf. Als Sand, Wasser, Blätter an einem Baum oder als Raumschiffkorridor. Es verweist überwiegend auf Oberflächen, Strukturen, Risse, Falten und seltener auf Atmosphären oder diffuse Räumlichkeiten.

Hyperrealität

Mit Jean Baudrillard könnten wir auch sagen, dass hier eine Hyperrealität sichtbar wird, wenn in aufwendigen Produktionsprozessen mit stundenlangen Recherche- und Gestaltungsarbeiten aus unzähligen realweltlichen Vorbildern dieser eine Bodenbelag entsteht. Dieser ist vonnöten, weil nur so das Ergebnis letztlich im Kontext seiner hyperrealen Umgebung funktionieren kann und wirklich realistische Darstellungen qua ihrer Alltäglichkeit im Kontext des Videospiels weitestgehend fehl am Platz wären. An der Stelle dessen, was ich das Schließen der haptischen Lücke genannt habe, kommt noch etwas Weiteres hinzu. Die hyperreale Audiovisualität transzendiert im Vollzug des Videospiels ihre beiden Ausgangsmodalitäten der Vermittlung.
Durch das Ansprechen von Empfindungen und vergangener Erfahrungen, also das von Chion genannte Rendering, werden die Augen gewissermaßen zu Händen, das Sehen wird zum Tasten. Das Material, dessen ontologischer Bestandteil hier immer das Licht ist, ist also nicht nur sichtbar, sondern im millimeterdünnen Zwischenraum von Fingerspitzen und Tastatur in einer diffusen Weise spürbar. Das Licht des Videospiels als Sand, Kiesel, Staub und Schutt ergreift uns auf eine Art und Weise, wie es keine realistische Lichtsituation je könnte, auch gerade weil es sich um eine technisch-mediale Vermittlungleistung handelt.

Das Baudrillard’sche Konzept des Hyperrealen führt uns zu dem damit eng verbundenen Begriff des Simulakrums. Das Hyperreale steht nach Baudrillards Überlegungen charakteristisch für die Referenzlosigkeit der Zeichen im fortlaufenden Simulationsgeschehen. Simulation versteht er nicht als Form der Illusion, sondern als Grundlage von Realität qua der Unterscheidung von Bezeichnendem und Bezeichnetem. Vgl. zur Hyperrealität und zum Simulakrum Baudrillard (1978a) und (1978b). Übertragen auf die hier angesprochenen Fälle können wir es auch als die Unterscheidung der Darstellung und dem darin Dargestellten auffassen. Das Hyperreale sei dadurch gekennzeichnet, dass durch die fortwährende Weiterentwicklung von Zeichen, diese nun nicht mehr von realweltlichen Objekten unterscheidbar seien. Weiter bestehe es demzufolge nur noch aus Zeichen, die selbst jedoch bedeutungsleer seien, da sie auf nichts anderes als sich selbst verweisen würden.

Zugegebenermaßen haben wir es im vorliegenden Fall mit einer Gemengelage zweier Referenzebenen zu tun. Die eine ist die Darstellung von Materialität durch das Licht und die andere ist der Verweis der Videospielmaterialitäten auf die Materialitäten der, um bei Baudrillard zu bleiben, objektiven Wirklichkeit. Die zweite Referenzebene schließt direkt an vergleichbare Überlegungen von Baudrillard beispielsweise zur Stereo-Musikwiedergabe an, die im Hyperrealen keinen Unterschied mehr zum wirklichen Musikgeschehen mehr feststellen lasse. Vgl. Kneer (2005), S. 150. Gleichwohl haben wir aber anhand des Beispiels des Kopfsteinpflasters einen Unterschied zwischen der Darstellung als Essenz aller Kopfsteinpflaster und deren Verweis auf ihr realweltliches Pendant festgestellt und die Besonderheit und Funktionalität gerade in jenem Unterschied verortet.

Was hier der Bedeutungsleere des Simulakrums hyperrealer Ordnung tatsächlich entgegenstrebt, ist der videospielspezifische Platonismus des Materials. Im Spannungsverhältnis zwischen dem Anspruch einer möglichst realitätsnahen Darstellung und dem für die Funktion als Materialität im Videospiel notwendigen Darüberhinausgehens, zeigt sich die eigentlich hyperreale Form, die genauer gesagt gar keine Form ist, sondern ihr Urbild darstellt. Die aus unzähligen Abbildern realweltlicher Abbilder des platonischen Ideals hergestellte Materialität präsentiert sich uns im Videospiel nicht als Abbild zweiter Ordnung, sondern viel mehr als das Ideal selbst, realisiert aus allen zusammengetragenen Bruchstücken vorbildlicher Realität.

Die Videospielmaterialität tritt stets in ihrem jeweiligen Kontext als Ideal auf, ist dabei jedoch nicht selbst geschlossen, oder Teil eines geschlossenen Erfahrungsraums, sondern zur Potenzialität hin geöffnet. Hinsichtlich jedem videospielspezifischen Materialitätsideal ist der Unterschied zwischen Type und Token gewissermaßen aufgehoben, was meines Erachtens jedoch nicht als Indiz einer Bedeutungsleere hyperrealer Ordnung verstanden werden darf. Die Funktionalität der Mensch-Spiel-Anordnung ist grundlegend durch eine Offenheit gegenüber ihrer Umgebung charakterisiert und baut, so wie Baudrillard es für seine Simulationstheorie beschreibt, auf durch Unterschiede zwischen Zeichen und Bezeichnetem generierter Bedeutung auf. Diese sich im Fluss befindlichen, raumzeitlich temporären Vermittlungssituationen positionieren sich damit exemplarisch gegen das Ideal einer außermedialen und objektiven Realität und machen diesen utopischen Horizont als eigentliche Hyperrealität kenntlich. Letztlich bringt das Licht im Videospiel erscheinend und modellierend situationell ideale Materialitäten hervor und verweist als ontologischer Bestandteil mitunter auf sich selbst.

Literatur

Baudrillard, Jean (1978a). „Agonie des Realen“. Berlin: Merve Verlag.

Baudrillard, Jean (1978b). „Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen“. Berlin: Merve Verlag.

Baudrillard, Jean (1994). „Simulacra and Simulation“. Ann Arbor: University of Michigan Press.

Chion, Michel (1994). „Audio-Vision: Sound On Screen“. New York Chichester, West Sussex: Columbia University Press.

Kneer, Georg (2005). „Jean Baudrillard“. In: „Aktuelle Theorien der Soziologie. Von Shmuel N. Eisenstadt bis zur Postmoderne“. Hrsg. von Dirk Kaesler. München: Verlag C. H. Beck, S. 147–167.

Latour, Bruno (1996). „On Actor-network Theory. A few Clarifications“. In: Soziale Welt 47, 1996, Heft 4, S. 369–382.

Merleau-Ponty, Maurice (2003). „Das Auge und der Geist. Philosophische Essays“. Hamburg: Felix Meiner Verlag.

Simondon, Gilbert (2008). „Ergänzende Bemerkungen zu den Konsequenzen des Individuationsbegriffs“. In: „Unmenge – Wie verteilt sich Handlungsmacht?“ Hrsg. von Ilka Becker, Michael Cuntz und Astrid Kusser. München: Wilhelm Fink Verlag, S. 45–74.

Der vorliegende Text war ursprünglich als Vortrag mit dem Titel „Lichtspielraum des Videospiels – Von Simulakren, Überlagerungen und Meta-Materialien“ auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Medienwissenschaft mit dem Thema „Medien-Materialitäten“ 2019 in Köln zu hören.

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